Edward II

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Diese geniale Adaptation des Marlowe-Stückes, eines der frühesten Zeugnisse einer offen homosexuellen Liebe in der europäischen Literatur, besitzt die hinreißende Verve eines vorwärtsstürmenden Liebesakts, der in Grausamkeit, Verbrechen und Tod endet. Der schwule König Edward II vernachlässigt seine Frau (Königin Isabella), die ihm gleichwohl so verfallen ist wie er seinem Geliebten Gaveston. Die Kirche spuckt auf das 'sodomitische Paar', der Adel ist empört über den König, der wegen seiner obsessiven Liebe zu dem geadelten Mann aus dem Volk die Staatsgeschäfte vergißt. So braut sich eine Koalition zwischen dem Militär, Mortimer, der Königin und der Kirche zusammen, die erst Gaveston grausam zu Tode bringt und dann am Ende eines Bürgerkriegs den gefangenen König ermordet... Derek Jarman, der schon seinen CARAVAGGIO aus dem Ambiente des Historienfilms in eine imaginäre Innenwelt versetzt hatte, die von Beckett und Bacon ikonografiert wurde, läßt die Liebestragödie der beiden Männer und der Frau in einem Gewölbe von Betonwänden spielen. Seine Figuren tragen teils zeitgenössische Kleidung (Mortimer ist ein Offizier der British Army), teils könnten die opulenten Roben der Königin von Dior sein.
Im Gegensatz zu derartigen Versuchen, klassische Stücke auf der Bühne 'modern' aufzumöbeln, besitzt aber Jarmans Entzeitlichung die präzise und poetische Kraft des Zugriffs auf zeitgenössische Illusionen. Dem schwulen 'amour fou' wird als Passionsgeschichte 'verbotener Liebe' durch den Zangengriff der öffentlichen Mächte von Polizei, Militär und Kirche sowohl Geschichte als auch Gegenwart einbeschrieben. Weil der Regisseur dem elisabethanischen Drama eine imaginäre Bühne schafft, kann er bruchlos den leidenschaftlichen Text Marlowes mit assoziativen Bilderuptionen versöhnen, die Jarmans eigene leidenschaftliche Teilnahme an der aktuellen Politik und Herrschafts-Gewalttätigkeiten offenbaren.
Gaveston wird von Polizisten totgeprügelt, die Parteigänger Edwards im Krieg formieren sich als Gay-Protest, und die siegreiche Königin läßt sich mit dem Militär Mortimer und dem Thronerben wie das britische Thronfolgerpaar fotografieren. Das erstaunlichste an Derek Jarmans EDWARD II ist die ideal vollkommene künstlerische Geschlossenheit seiner phantasieerregenden und assoziationsreichen Form, die das gerade 400 Jahre alte Stück treu bewahrt: im Herzen der Gegenwart.
Dieser 'politische' Umgang mit einem Elisabethaner unterscheidet sich scharf von dem manieristischen Peter Greenaway in PROSPERO'S BOOKS - PROSPEROS BÜCHER (1991) und dem jüngsten naturalistisch-symbolischen in HENRY V (1989) des Iren Kenneth Branagh. Triftig bleibt Derek Jarmans EDWARD II dort, wo er, über Marlowe hinausgehend, seiner schwulen Utopie die Zügel schießen läßt: wenn er die Königin-Mutter und den Usurpator Mortimer als gebleichte Gefangene in einem Käfig zeigt, auf dem der Sohn Edwards in Stöckelschuhen und mit Ohrringen als Rächer seines ermordeten Vaters herumspaziert.
Wolfram Schütte, in: Frankfurter Rundschau , 12. 9. 1991
Christopher Marlowe und 'Edward II'
Der Dramatiker Christopher Marlowe war ein Zeitgenosse Shakespeares und begann wie jener nach einiger Erfahrung als Schauspieler, für die Bühne zu schreiben. Hätte man die beiden Dichter 1593 verglichen, hätte wohl Christopher Marlowe als der größere Dramatiker von beiden gegolten. Während jedoch Shakespeare noch weitere zwanzig Jahre Theaterstücke schrieb und in ehrenvollem Ruhestand starb, kam Marlowe im Alter von 29 Jahren bei einer Schlägerei zu Tode.
Bekannte sich Marlowe selbst offen als Atheist und Homosexueller, ist sein 'Edward II', wahrscheinlich ein Jahr vor dem Tod des Autors geschrieben, zweifellos das erste Werk englischer Sprache, das Homosexualität thematisiert.
Da das Stück inzwischen einen festen Platz im klassischen dramatischen Kanon eingenommen hat, erscheint es unwahrscheinlich, daß man es so lange ignoriert haben soll: eine Amateurinszenierung aus dem Jahr 1905, in der der Dramatiker Harley Granville-Barker den König spielte, ist die erste Aufführung, von der es nach nahezu 300 Jahren Belege gibt. Das ist jedoch nicht so überraschend, wenn man bedenkt, daß im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert sogar einige Stücke Shakespeares als zu brutal und zu schlecht geschrieben galten, um sie inszenieren zu können. (...) Marlowes Stücke waren zu seinen Lebzeiten sehr populär. 'Edward II' wurde wahrscheinlich 1591/92 geschrieben und 1593 veröffentlicht; bis dahin war es "etliche Male öffentlich in der ehrenwerten Stadt London aufgeführt worden". Englische Theater-Ensembles zeigten seine Stücke auch im Ausland: Im Herbst des Jahres 1592 verzeichnete ein deutscher Kaufmann anläßlich eines Jahrmarktes die Aufführungen des "dort im Inselland gar berühmten Herrn Christopher Marlowe".
Aber Marlowes Stücke verloren an Popularität, bevor die Puritaner die Theater schließen ließen und damit seinen Ruf gänzlich ruinierten. Erst 1744 begann man sich wieder für 'Edward II' zu interessieren, nachdem das Stück in einer Sammlung alter Stücke erneut aufgelegt worden war. Charles Lamb rühmte die Todesszene und ernannte Marlowe zum "rechtmäßigen, wenn auch unvollkommenen Vater unserer Tragödie".
Dennoch wurde das Stück nicht aufgeführt; vielleicht, weil 'The Jew of Malta' und 'Doctor Faustus' für den Star-Schauspieler Edward Alleyn, 'Edward II' hingegen für ein anderes Ensemble und eine ausgeglichenere Besetzung geschrieben worden waren. Als Edmund Kean den ersten Marlowe nach über 150 Jahren inszenierte, wählte er die kraftvolle Rolle des Barrabas in 'The Jew of Malta' (übernahm jedoch großzügig Dialoge aus 'Edward II'). Auch in Europa belebte sich das Interesse für Marlowe wieder. 1813 wurden 'Edward II' und 'The Jew of Malta' ins Deutsche übersetzt, die Übersetzung von 'Doktor Faustus' (die Goethe zu seinem 'Faust' inspirierte) folgte 1818. 1924 adaptierte Bertolt Brecht 'Edward II' in einer eigenen Fassung des Stoffes. Sämtliche Werke Marlowes wurden 1889 ins Französische und 1914 ins Italienische übersetzt.
Als eigentliche Wiederentdeckung des Meisterwerks 'Edward II' muß eine Inszenierung durch Amateurschauspieler an Marlowes eigener Universität in Cambridge gelten. 1951 spielte Toby Robertson den König unter der Regie von John Barton (der später der Royal Shakespeare Company beitreten sollte). 1958 inszenierte Robertson selbst eine Freilichtaufführung mit Derek Jacobi in der Titelrolle. Diese Aufführung war die erste, die sich zu dem homosexuellen Gehalt des Stücks bekannte; sie wurde nur kurze Zeit in London gespielt. Eine Aufführung des Jahres 1969 , die erneut Robertson mit dem Ensemble des 'Prospect Theatre' erarbeitete, wurde die berühmteste Inszenierung des Stückes. Ian McKellen spielte abwechselnd 'Edward II' und Shakespeares 'Richard II'. Die Inszenierung eröffnete das Edinburgh Festival und wurde vom 'Mermaid Theatre' in London in den Spielplan aufgenommen.
Seitdem hat es mehrere Inszenierungen gegeben, unter denen jene am 'Royal Exchange' in Manchester (in der Rolle des Edward: Ian McDiarmid, Regie: Nicholas Hytner) und am 'Swan Theatre' der 'Royal Shakespeare Company' in Stratford-upon-Avon (Edward: Simon Russell Beale, Regie: Gerard Murphy) herausragen. In Amerika ist Marlowe bisher noch nicht häufig aufgeführt worden. (Als er in Verbindung mit einem Theater-Ensemble vor dem 'House of Un-American Activities Committee' erwähnt wurde, stellte der Verhörende die Frage: "Ist er Kommunist?") Erst 1975 wurde das Stück von John Housemans 'The Acting Company' in New York inszeniert, angekündigt als "erste professionelle amerikanische Inszenierung von Marlowes Klassiker über Englands einzig bekannten homosexuellen König".
(Produktionsmitteilung)

Details

  • Länge

    91 min
  • Land

    Großbritannien
  • Vorführungsjahr

    1992
  • Herstellungsjahr

    1991
  • Regie

    Derek Jarman
  • Mitwirkende

    Steven Waddington, Andrew Tiernan, Tilda Swinton, Nigel Terry, Kevin Collins, Jerome Flynn, John Lynch, Dudley Sutton, Jody Graber, Annie Lennox, Allan Corduner
  • Produktionsfirma

    Working Title Productions, Ltd.; British Screen; BBC Films; Uplink
  • Berlinale Sektion

    Forum
  • Berlinale Kategorie

    Spielfilm
  • Teddy Award Gewinner

    Teddy Jury Award

Biografie Derek Jarman

Geboren 1942, gestorben 1994. Er studierte Malerei, arbeitete als Kostüm- und Bühnenbilddesigner beim Royal Ballet, 1970 als Ausstatter bei Ken Russells THE DEVILS. Mehreren Kurzfilmen folgte 1976 das Spielfilmdebüt SEBASTIANE. 1979 war er mit THE TEMPEST erstmals bei der Berlinale vertreten. Er drehte neben seinen subversiven Kostümdramen und experimentellen Kino-Gedichten ab den Siebzigerjahren viele avantgardistische Musikvideos und engagierte sich in der britischen Öffentlichkeit vehement für die Rechte Homosexueller.

Filmografie Derek Jarman

1977 Jubilee | 1979 The Tempest | 1984 Imagining October | 1985 The Angelic Conversation | 1986 Caravaggio | 1987 Aria | 1989 War Requiem | 1990 The Garden | 1993 Blue | 2014 Will You Dance with Me?